NORMAL

28.04. – 25.06.2016

Was normal ist, muss man nicht erklären. Normal kann alles sein. Der Alltag und seine Routinen, aber auch die Lücken im Ablauf, die «Fenster», durch die man klettert, das Getränk an der Bar zwischen Arbeit und Zuhause… Ab und zu mag man erschrecken darüber, was konkret «normal» genannt wird. Und logisch, das eigene «Normal» kann anders aussehen als das der anderen. Heisst das dann: Man selber ist nicht mehr normal?

Die Rebellion gegen das Normale steht bei Künstlern, Spielern und Revoluzzern hoch im Kurs. Oft steht «normal» für spiessig oder bünzlig. Aber «normal» ist nicht gleich Durchschnitt oder Mittelmass. Im Leben jedes Menschen entwickelt sich das Gefühl für «normal» nur langsam, sorgsam muss es ausgebildet werden; es fordert feine soziale Fähigkeiten, bindet viele Kräfte. «Normal» ist schwer zu lernen, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Und manchmal leider auch schwer zu ertragen. Manche Menschen brauchen daher Theater, Psychotherapie, selbstgefährdende Hobbys und manche sind einfach total erfolgreich in der Normalität.

Auf einer Werbetafel für eine Privatbank am Zürcher Flughafen heisst es:
To break the rules, you must first master them.

So ist das wohl. Es spricht aber hier auch die lässige Arroganz derer, die für sich beanspruchen, die Regeln zu bestimmen. Offenbar erfahren wir, was «normal» ist, vor allem als machtvolle Setzung, als Anmassung, im Widerstreit mit eigenen Ansprüchen und Sehnsucht nach Spielraum. Akte der Anpassung fordern Akte der Rebellion heraus – oder auch Scheingefechte: Zu laut Musik hören, protestieren, gegen Wände laufen, wählen gehen, nicht wählen gehen, nicht vernünftig sein wollen, saufen, Leserbriefe schreiben, nie erwachsen werden, verrückt werden, verbittern, sich einer Jugendbewegung anschliessen, auf Andreas Baader stehen, IS-Kämpfer werden, Nachbarn hassen, einfach alles hassen, gute Bücher lesen.

In Kenntnis der eigenen Grenzen kann man sich fragen, ob man das Normale als Zerr- und Feindbild auch einfach pflegt. Man könnte sich natürlich eine Gesellschaft denken, in der das Aussergewöhnliche, Schräge und Besondere gefeiert wird – alles Abweichende wäre dann ganz normal. Alle folgten David Bowies Botschaft: Schaut mich an, schaut auf euch selbst. Ihr könnt alles sein, tragen und tun, was ihr wollt, und jede beliebige Sexualität leben. Wenn es gut läuft, hat jeder von uns ein paar Jahrzehnte auf dieser Erde. Ich werde mich also nicht darum kümmern, was andere von mir denken. Und ihr solltet das auch nicht tun.

Das alles kann man sich vorstellen, entspricht aber nicht der Realität. Nach Studien wie dem CS-Jugendbarometer 2015 wollen die heutigen Schüler und Jugendlichen früh heiraten, ein Eigenheim, keine grosse Karriere, aber genügend Geld zur Verfügung haben. Ist das die normalste Jugend aller Zeiten? Das ist jedenfalls eine Perspektive, in der Theater-Direktor Peter Kastenmüller mit SCHOOLS OF NORMAL die Jugendlichen aus verschiedenen Zürcher Schulen inszeniert. Die Schüler unterrichten, auf den Bänken sitzen die Zuschauer, vornehmlich Erwachsene. Was dringend nötig ist, wenn man dem Jugendpsychologen Allan Guggenbühl folgt (Interview auf S. 89 dieser Publikation). Denn ihm zufolge sagen Studien wie das Jugendbarometerweniger über die Haltung der Jugend aus, als über die «Geronten»-Gesellschaft, die Jugendliche als Projektionsfläche heranzieht. SCHOOLS OF NORMAL gibt den Schülern die Möglichkeit, ihre langjährige Erfahrung im Unterricht zurück auf die Gesellschaft – oder zumindest auf das Publikum – zu werfen. Vielleicht hilft dies dem einen oder anderen dabei, das Normale zu reflektieren.
Fragen wir uns also selbst: Leben wir im normalsten Land der Welt? Ist wirklich nichts mehr normal? Werden Terroranschläge in Mitteleuropa normal? Bin ich zu normal? Ist es normal, dass die ARD Frankreich bei Europaratswahlen braun färbt? Ist Frankreichwirklich noch normal? Ist es normal, dass Flüchtlingsheime brennen? Ist es normal, dass Initiativen eingereicht werden, die in etwa so umsetzbar – und wünschenswert! – wie die Forderung «Schmelzung der Polkappen» sind? Normal, im Sinne von akzeptabel, ist es erst, wenn wir es hinnehmen.

Bis 1971 konnten die Bürgerinnen dieses Landes nicht abstimmen, bis 1978 verlor eine Schweizerin, die einen Ausländer heiratete, ihre Staatsbürgerschaft, bis 1987 waren Frauen in Ehe und Scheidung massiv benachteiligt, bis 2003 gab es keinen Straftatbestand der Vergewaltigung inder Ehe. Das war alles normal. Das war einfach so. Es lohnt sich also auch heute – trotz Hype um junge Feministinnen wie Laurie Penny und Lena Dunham – zu überprüfen, was noch alles für Tabus schlummern im individuellen Horror der Kleinfamilie, wie sie Henrik Ibsen in NORA. EIN PUPPENHAUS als Modell beschreibt.

Was der Gesellschaft schon immer am leichtesten fiel, war eine Brandmarkung der psychisch Kranken. In BILDER DEINER GROSSEN LIEBE spaziert die 14-jährige, mental auffällige Isa durch einen posthum erschienenen Text von Wolfgang Herrndorf. Der Autor litt an einem Hirntumor und äusserte sich auch offen über die psychischenAuswirkungen seiner Krankheit. Isa trägt mit ihrem wunderbar unvermittelten Charakterwohl am meisten bei zum Laborbegriff «normal»: Kindlich, gescheit und fordernd im Blick auf die Welt.

Was auf einer Bühne geschieht, soll immer neu, unvermittelt und verliebt in den Moment sein. In dem Sinn sucht Theater ebenfalls einen kindlichen Blick. Das Normale ist etwas, das man oft fast nicht mehr erkennt, darum ist das Thema «Normal» eine vielversprechende Lupe für unser Theater.

Wir freuen uns, Sie in unseren Vorstellungen zur Überprüfung des Normalen begrüssen zu dürfen.

 

Ralf Fiedler, Inga Schonlau, Benjamin von Wyl

Premieren «Normal»

Thu 28. April, 20.00 h, Saal

Von Wolfgang Herrndorf
Schweizer Erstaufführung

Tue 03. May, 20.30 h, Chorgasse

Ein Projekt von LAB Junges Theater Zürich

Fri 06. May, 20.00 h, Saal

Von Henrik Ibsen

Fri 27. May, 18.00 h, Schulhaus Feldstrasse

Ein theatraler Schüleraustausch
Mit Schülerinnen und Schülern der Sekundarschule Feld
und der Kantonsschule Freudenberg

Im Rahmen der Festspiele Zürich

Thu 09. June, 20.00 h, Saal

Von Talking Straight

Sat 11. June, 20.30 h, Chorgasse

Von Anthony Burgess

Im Rahmen der Festspiele Zürich

Fri 24. June, 20.00 h, Saal

Extras

Von und mit Minitheater Hannibal

In cooperation with DAS MAGAZIN
Guest: Talaya Schmid

Von Verrätern und anderen Intellektuellen

Von Hugo Loetscher
Lesung und Gespräch

Von Elfriede Jelinek
Sechs Stationen zu Flucht und Grenzen

Theater Neumarkt Backstage-Fest für alle zum 50. Geburtstag

Von und mit Minitheater Hannibal

Abende mit Konsequenzen

Tango-Crashkurs und Milonga

CD-Taufe «Wrong Is Right»

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