Krieg und Frieden
Januar bis April 2016
Ein Wortpaar – wie gross und klein, Licht und Schatten, 0 und 1. Als ob das eine zum anderen gehören würde, als ob es sich um den Quellcode menschlicher Existenz handle. Alleine das Wortpaar schwarz auf weiss greift die Hoffnung an, «Krieg» könne etwa durch ein Fortschreiten der Humanität, der Vernunft oder was auch immer ausgemerzt werden.
Es wäre also weder politisch korrekt noch sinnvoll, die Wörter in dieser Zusammenstellung zu benutzen, falls man darauf aus ist, «Krieg» irgendwie loszuwerden, abzuschaffen.
Aber zum Glück schaffen Wortpaare nicht einfach Fakten. Das ist besonders momentan wichtig – heute ist der 18.November 2015 –wenn selbst der NZZ-Chefredaktor Eric Gujer in seinem Kommentar zu den Anschlägen in Paris schreibt:
«Europa sollte ferner den Kampf gegen die Urheber des Terrors in deren Länder tragen und sich mit aller Entschlossenheit im Nahen Osten militärisch engagieren, um den IS zu vernichten. Die enge Verzahnung von Polizei, Nachrichtendiensten und Armee bringt in der Epoche des globalen Jihad die besten Resultate. Die Amerikaner haben so die Kaida zerschlagen.» Und weiter: «Völlige Sicherheit kann es nicht geben, aber mit einem Ausbau der Überwachung, etwa einer vermehrten Kontrolle der Telekommunikation, wird das Netz engmaschiger.» (NZZ, 16.11.15)
Klar, in der Schweiz wurden Kriege seit 1848 vor allem um Worte gefochten: «Anbauschlacht», «Geistige Landesverteidigung», «Réduit» und immer wieder und beinahe täglich: im Sinne der Freiheit. Gleichzeitig gibt sich die Schweiz als Boot, als Insel, als Idylle. Die Insel der Seligen, in der sich ein kleiner Teil der Menschheit so organisiert hat, dass er in Frieden und Wohlstand leben kann. Und damit ist die Erzählung, die sich die Schweiz gibt, immer eine Gleichzeitigkeit: Krieg und Frieden. Die Insel der Seligen kann es nur geben, wenn der Quellcode eben lautet «Krieg aller gegen alle ist der natürliche Zustand.» Oder im Wortlaut von Thomas Hobbes: «Es ist unleugbar, dass der Krieg der natürliche Zustand der Menschen war, bevor die Gesellschaft gebildet wurde, und zwar nicht einfach der Krieg, sondern der Krieg aller gegen alle.»
Nach Hobbes ist die Zivilisation mit ihren Kulturgütern nur ein verletzliches, temporäres Bollwerk gegen einen Rückfall in diesen Urzustand – umso mehr wäre dieses künstliche Bollwerk absolut bewahrenswert! So out of time ist Thomas Hobbes Analyse aber nicht, denn Hobbes Gedanken über den ursprünglichen Kriegszustand hatten die Unterwerfung (arab. Islam) unter einen absolutistischen Herrscher zum Ziel. Und einer der Denkstränge, in denen der «Krieg aller gegen alle» aufgegangen war, ist Adam Smiths «Theorie der ethischen Gefühle»: Wenn eine Gesellschaft des gefühlvollen Miteinanders unmöglich ist, soll eine Gesellschaft geschaffen werden, in denen persönliches und politisches Handeln wie ein Geschäft zwischen zwei Kaufleuten angelegt ist. 17 Jahre später veröffentlichte Smith «Der Wohlstand der Nationen», die theoretische Grundlage für die kapitalistische Wettbewerbsgesellschaft, die mancherorts Wohlstand schafft, aber in ihrer Anlage als «competition» und als «Unterwerfung» (arab. Islam) unter eine «unsichtbare Hand» zu neuen Kämpfen und Kriegen führte und führt: Materialschlachten, Rohstoffkriege, Verteilkämpfe, war on drugs.
Nach dem rechtskonservativen Staatstheoretiker Carl Schmitt ist die Unterscheidung «Freund – Feind» die elementare Kategorie des Politischen. Politik wäre also immer auch in Bezug auf die Möglichkeit kriegerischer Auseinandersetzung zu denken. Tatsächlich beruht parlamentarische Demokratie, die nach teils geschriebenen, teils ungeschriebenen Regeln funktioniert, auf dem Konsens, dass alle Politiker die Regeln dieser parlamentarischen Demokratie annehmen. Sich dazu bekennen, sich ihr hingeben (auch eine Übersetzung des Wortstamms von «Islam»). Das heisst – egal, ob wir die Vorstellung von einem kriegerischen Urzustand annehmen oder ablehnen – das damit einhergehende Denken, die zwei Pole «Natur/Regellosigkeit/Barbarei» gegenüber «Zivilisation/Regelsysteme/Unterwerfung» sind wirkmächtig in der Welt, in der wir leben. Auch diejenigen, die im Namen der Religion «Islam» in Frankreich, Syrien und Nigeria töten, vertreten eine zivilisatorische Vorstellung – sie mag aus dem 7.Jahrhundert stammen – aber auch sie morden in diesem binären System.0 + 1.
Auch der eingangs erwähnte Zeitungskommentar zu den Anschlägen in der NZZ, als liberale Zeitung ist sie eigentlich der Freiheit verpflichtet, hantiert mit einer Chiffre von Unterwerfung: Unterwerfung für Sicherheit. Mehr staatliche Gewalt, mehr Überwachung. Hingabe zu mehr Regeln als Preis für einen Sieg. Ein Sieg – Sieg & Niederlage, auch so ein Gegensatzpaar – verspräche den Frieden.
Nur leider füllen unglaubliche viele – wirkmächtige und ohnmächtige –Menschen den Gegensatz mit anderen Vorstellungen davon, was 0 ist und was 1.Was Krieg ist und was Frieden. Die von Hobbes herbeiargumentierte Flucht aus einem Naturzustand durch Unterwerfung unter eine Person, einen Herrscher, würde nur in einer Welt funktionieren, in der es genau eine Herrschaft und eine Idee gäbe.
Und zum Glück gibt es viele Ideen, Ideen, die aus einer anderen Tradition als 0 oder 1 stammen, die 0 und 1 dekonstruieren wollen. Eine dieser Ideen heisst – pathetisch, aber nicht zwingend amerikanisch – Freiheit. Es ist die Freiheit, blasphemisch zu sein, aber auch die Freiheit, den Staat zu kritisieren. Die Freiheit, nackte Menschen auf einer Theaterbühne zu zeigen, ebenso wie die Freiheit, nackt vor einer geschlossenen Linie aus Polizisten zu demonstrieren.
Als Theater ist unsere Macht eingeschränkt. Wir können Dinge zeigen, aufzeigen, allenfalls aussprechen. Und natürlich muss niemand auf ein Theater hören. Trotzdem: Konsequentes Theater und politische Demonstrationen bereichern einander, sind zwei Ausdrucksformen, um auf Misstände hinzuweisen. Demonstrationen, bürgerlicher Ungehorsam, first world anarchy, absurdes Verhalten in der Öffentlichkeit, Streiks, Aufschreie sind die einzige Form von Positionseinnahme, die einen Ausweg aus dem scheinbaren oder tatsächlichen Quellcodemenschlicher Existenz bieten.
So viel ist sicher: Wir stehen heute vor keinem Ende der Geschichte à la Fukuyama. Geschichte ist (immer noch) Geschichte der Kriege. Die Ausweitung der Kampfzonen ist alles andere als unwahrscheinlich. Das Elend, die Verwerfungen, die jetzt schon sichtbar sind, erregen Abwehr oder Betroffenheit, Gewalt, aber auch ausserordentliche Hilfsbereitschaft. Immerhin.