Glück 
									
									
										
											 Der Maulwurf ist blind, aber er gräbt in die richtige
											Richtung. So, kann man denken, suchen Menschen nach dem
											Glück: Irgendwie wüssten sie schon, was sie brauchen, jeder
											tut, was er kann, auf der Jagd, auf der Verfolgung, in pursuit
												of happiness. Ökonomischer Erfolg verspricht Glück als
											Belohnung, Beute, die irgendwann ausgekostet werden darf und
											so gewiss ist wie ein Bonus am Ende eines guten
											Geschäftsjahrs, zugeteilt von der unsichtbaren Hand.
											
 Man kann aber auch von der entgegengesetzten
											Annahme ausgehen. Eyes wide shut: Blicken wir vom
											Saturn oder von sonst wo weit draussen auf die Erde herunter.
											Offenbar stehen sich Menschen auf ihrem Weg zum guten Leben
											selbst im Weg. Sie sehen nicht, wohin sie gehen, nicht
											einmal, wohin sie wollten. «Siehst du denn keine zwei
											Schritte weit», fragt der Geistliche den Josef K. im
											«Prozess» von Franz Kafka kurz vor dem Ende. Erinnern wir uns
											an die frühen Entdeckungen der Psychoanalyse:
											Wiederholungszwänge begrenzen unseren Aktionsradius. Alte
											Bahnungen leiten uns. Das Ich ist nicht Herr in seinem
											eigenen Haus, ein grosser Teil unserer psychischen Aktivität
											bleibt uns verborgen... Unsere Glücksmöglichkeiten sind durch
											unsere Konstitution begrenzt, fasst Freud später zusammen.
											
 Akzeptieren wir, dass unsere Weitsicht nicht gross
											ist, die globale Lage deutet darauf hin. Gäbe es geistige
											Führer, könnten wir sie brauchen. Nur, wo wären die? Und
											sprechen wir nicht über Esoterik, lassen wir die Ironie
											beiseite. Was wir suchen, ist etwas anderes: Eine
											allgemeingültige, verständliche Form des Austauschs über die
											Frage: Warum ist es so schwer, ein gutes Leben zu führen, das
											uns nicht bloss als mittelmässiger Kompromiss erscheint,
											«zufrieden, ja schon», «o.k.», aber immer bleibt der quälende
											Zweifel: Das kann es doch noch nicht gewesen sein.
 
											Geht es nicht auch viel einfacher? Genügt es nicht,
											aufzuhören, das Glück irgendwo in ferner Zukunft zu suchen,
											wenn die Belohnung da ist, am Jüngsten Tag oder am Ende der
											Therapie, sondern im Hier und Jetzt? Brauchen wir die ganze
											Theorie, wir wissen doch schon so viel? Ist es nicht Praxis,
											was uns fehlt? JA, halten wir das schon mal fest. Die «Praxis
											Neumarkt» soll eine unverzichtbare Institution werden; seien
											Sie jetzt schon herzlich eingeladen: Kommunikation wird
											Gespräch. Sprecher werden sich begegnen. – Diskurse können
											nicht glücklich sein, nur Personen, die reden oder schweigen.
											Glück braucht die Begegnung, das Rausgehen, aber nicht
											unbedingt ein Zuhause.
 
 Aber was ist das
											eigentlich, «Glück»? Vielleicht ist es an der Zeit für eine
											andere Perspektive, aus der wir die Sache betrachten. Wir
											haben gelernt, uns Glück als einen Zustand unseres Bewusst-
											seins vorzustellen, einen Erregungs- oder Gemütszustand – als
											etwas Subjektives: Glücklich sind wir, wenn wir uns so
											fühlen. Aber niemand würde einen mit Morphium betäubten
											Kranken einen glücklichen Menschen nennen, selbst wenn er
											sich so fühlt. «Glück ist nur gut, wenn es angebracht ist;
											wenn Traurigkeit angebracht ist, ist es besser, traurig zu
											sein. Glück an sich, unabhängig von seinen Objekten und
											Quellen, zum höchsten Ziel (etwa der Politik) zu er- klären,
											ist ein Rezept für Infantilisierung – Aldous Huxley hat das
											in ‹Schöne neue Welt› auf denkwürdige Weise dargestellt...»
											(Robert & Edward Skidelsky, «How much is enough?»)
											
 Glück hat also noch eine andere, «objektive»
											Dimension, die mit der Welt, in der wir leben, dem sozialen
											Leben, zu tun hat. Die erste Erörterung, was Glück ist,
											finden wir in Herodots Historien. Er schildert den Besuch
											Solons von Athen bei Krösus, dem sagenhaften König von
											Lydien. Krösus fragt Solon, ob er bei seinen Reisen jemanden
											getroffen habe, der «glücklicher als alle anderen» gewesen
											sei. Solon ignoriert die Aufforderung, seinem Gastgeber ein
											Kompliment zu machen, und bezeichnet stattdessen einen
											gewissen Tellos als den glücklichsten Menschen. Krösus ist
											verletzt und verlangt eine Erklärung.
 
											Solon antwortet: «Tellos lebt in einer blühenden Stadt, hatte
											treffliche, wackere Söhne und sah, wie ihnen allen Kinder
											geboren wurden und wie diese alle am Leben blieben. Er war
											nach unseren heimischen Begriffen glücklich, und ein
											herrlicher Tod krönte sein Leben. In einer Schlacht zwischen
											Athenern und ihren Nachbarn in Eleusis brachte er durch sein
											Eingreifen die Feinde zum Weichen und starb den Heldentod.
											Die Athener begruben ihn auf Staatskosten an der Stelle, wo
											er gefallen war, und ehrten ihn sehr.»
 
 So
											gesehen ist Glück kein Bewusstseinszustand, sondern
											beschreibt eine wünschenswerte Art zu leben und zu sterben,
											ein günstiges Schicksal, «ein gutes Leben». Die vormoderne
											Denkweise ist vielversprechend. Vielleicht ist «Sein» doch
											wichtiger als «Bewusstsein». Was wir aufbauen, schaffen,
											anhäufen, was sich niederschlägt als Resultat unserer
											Tätigkeit, konkret unserer Arbeit, aber auch unseres sozialen
											Lebens, all das gehört hierher: Freundschaften, Kinder,
											Beziehungen, gekoppelt an soziale Qualitäten wie z.B.
											Ehrlichkeit, Empfindlichkeit, Einfühlungsvermögen... und
											sollte ohne Peinlichkeit ins Spiel gebracht werden dürfen.
											Die Rolle dieser Dinge wird von vielen erkannt, aber zugleich
											unterschätzt und an den Rand gedrängt. Es geht dabei nicht um
											irgendwelche Resultate beliebiger Tätigkeit, sondern darum,
											Dinge zu tun, die unseren Anlagen und Möglichkeiten
											entsprechen. Es hat hier keinen Sinn vorzugeben, ein/e
											andere/r zu sein. «Glück heisst, sich seinen Fähigkeiten
											entsprechend zu verausgaben.» (Karl Marx)
 
											Viel Zeit ist seit der schönen Antike vergangen, viele
											Theorien sind aufgestellt und verworfen worden. «Das Begehren
											ist nicht länger, wie noch im Altertum, ein Pfeil, der sein
											Ziel treffen oder verpassen kann; es ist eine blosse
											psychologische Tatsache, in sich schuldlos und unfehlbar.»
											(R. & E. Skidelsky) Spätestens mit der Konstruktion des homo
												oeconomicus geht die Wissenschaft von der «Gegebenheit der
											Bedürfnisse» aus, das heisst, die Objekte unseres Begehrens
											werden nicht bewertet, der Einfachheit halber nicht mehr in
											Betracht gezogen. John Locke: «Wenn es keinen Himmel und
											keine Hölle gibt, wo wir belohnt oder bestraft werden, ist
											keine Lebensweise irgendeiner anderen vorzuziehen. Heute
											betrachten wir Glück ganz normal als Effekt der richtigen Art
											von Stimulation – audio- visueller, taktiler, biochemischer
											Art.»
 
 Aber ist tatsächlich alles «gut» (im
											Sinne von «praktisch» und «nachhaltig»), was uns mehr oder
											weniger glücklich macht? Was einen Zu- stand der Euphorie
											erregt, wie flüchtig der auch sein mag? Die Liebe, die
											Drogen, der Sex, das Kino, unsere «Einbildung», das berühmte
											Imaginäre ... Seltsam zum Beispiel: In einem typischen Film
											zum Thema («Knockin’ on Heaven’s Door» mit Til Schweiger)
											muss der Held erst eine Krebsdiagnose in den Händen halten,
											Endstadium, nichts zu machen, damit er endlich raus fahren
											darf ans Meer mit seinem Kumpel und sie tun, was sie «immer»
											wollten ... Die Gedanken- Verbindung radikaler Bruch =
											Befreiung = Glück scheint tief verankert. Als müsste man
											immer erst «einen Schnitt machen», tabula rasa,
											«abräumen», um eine Chance auf den Neuanfang auf- zutun oder
											uns ihn wenigstens vorzustellen. Haben wir verlernt,
											innerhalb der Grenzen der Realität über Glück nachzudenken?
											
 Die zahllosen Reklamen mit Bildern glücklicher
											Familien bezeugen, dass Menschen und Werbeagenturen die
											sozialen Quellen von Glück nicht ganz aus dem Blick verloren
											haben – und entlarven sich zugleich selbst, weil sie
											lebendige Menschen behandeln, als wären sie Replikanten aus
											Ridley Scotts Film Blade Runner. Denen wurden Klischees von
											Familie und Kindheit im Polaroid-Format eingepflanzt, um sie
											humanoid zu machen – was so viel heissen soll wie empfänglich
											für den kitschigen Abklatsch glücklichen sozialen Seins.
											Ungewollt verweisen solche Kampagnen auf das platte Gegenteil
											dessen, was sie zeigen wollen, decken sie die Wiederholung,
											das Immergleiche, den Terror und die Penetranz auf, mit der
											diese Muster als Leerformen verlängert werden [«Allegorie des
											Glücks» von Markus Öhrn]. Was wir brauchen ist eine echte
											Praxis des Glücks, eine echte Stiftung Warentest,
											Prüfverfahren für Techniken des guten Lebens – nicht bloss
											Bilder. Die Maschinen des Imaginären machen uns passiv,
											lassen uns das Nächstliegende nicht mehr sehen. Mit der
											technologischen Entwicklung ist eine ungeheure
											Radikalisierung und Spezialisierung zu beobachten.
 
											Das Motiv der Blindheit taucht in diesen Kontexten mit neuer
											Kraft wieder auf. Der Fallschirmspringer Felix («der
											Glückliche») Baumgartner konnte während seines Sturzes aus
											der Stratosphäre nichts von seiner Überschallgeschwindigkeit
											gespürt haben – analysierte hinterher ein Experte der NASA.
											Im Weltall fehlt jeder Referenzpunkt. Der Stürzende mag alles
											Mögliche gefühlt, nur nichts wahrgenommen haben, was seinem
											Gehirn die Erfahrung von Geschwindigkeit (∆t) hätte
											vermitteln können. Das unerbittliche Begehren nach speed
											steht offenbar mit den armseligen physikalischen und
											physiologischen Realitäten in eklatantem Widerspruch. So wird
											Felix Baumgartner höchstwahrscheinlich schon während des
											Sturzes an das Ende des Sturzes gedacht haben, wie man bei
											einem missglückten Ferienaufenthalt oder schlechtem Sex eben
											nur ans Ende der laufenden Aktion denkt.
 
											Die grosse Frage hinter diesen Zuspitzungen lautet: Müssen
											wir notwendig blind bleiben? Ist die ganze Rede von der
											Blindheit des Begehrens vielleicht nicht mehr als ein
											willkommenes Alibi für unseren fehlenden Mut zu sehen? Finden
											wir uns nicht zu schnell ab mit dem schönen traurigen
											Verfehlen, Verpassen und Verkennen, haben wir uns nicht schon
											viel zu gut angefreundet mit all den Freud’schen «Ver-»s?
											Nicht einen falschen Frieden damit gemacht? Muss man zum
											Beispiel den Wahnsinn der Liebe bzw. die Liebe als zeitweisen
											Wahnsinn, die absolute Verblendung, nicht mit Roland Barthes
											wieder absolut ernst nehmen, um das Unding unserer Existenz
											auszuloten und den grassierenden Narzissmus – die modernste
											und perfideste Form der Blindheit, jene gegenüber «dem
											Anderen» – auszuhebeln? [Laura Koerfers «Werther»-Projekt]
										
 
			 
											 
											 
											 
											 
											 
										 
										 
										 
										 
										 
							 
							 
							 
							